Mein Leben in Balance mit der Gesellschaft

Erfahrungsbericht eines Psychiatrie-Erfahrenen

Ein Beitrag von Franz-Josef Wagner

1. Vorsitzender des LVPE
„Psychiatrische Pflege Heute“ 3/2009

Dieser subjektive Beitrag betrachtet meine Lebensphasen. Die Phase vor meiner psychiatrischen Karriere bezeichne ich als „Normalphase“, die „Schockphase“ schließt sich an. Hier erfuhr ich alle negativen Auswirkungen der stigmatisierenden Diagnose „Schizophrenie“ Verlust von Arbeit, Familie, sozialer Stellung und die Konsequenz mehrmalige Einweisung in die stationäre Psychiatrie.

Am Ende der Schockphase erkannte ich die umfassende Bedeutung der pathologischen Diagnose und glitt selbstverständlich in die „Resignationsphase“. Aus dieser Phase konnte ich nur durch das Bewusstwerden der „ausweglosen“ Situation gelangen. Gezielt arbeitete ich an der „Gesundungsphase“, die mir qualitative und quantitative Lebensqualität brachte.

Abb. Makrosystem: Verlauf der Persönlichkeit in der psychiatrischen Krise

 

„Schuster bleib bei Deinen Leisten“

Die ersten 20 Jahre meines Lebens verbrachte ich auf dem Land. Die Basis dieser Zeit war das Entwickeln von Ressourcen zum Überleben in einer ehrlichen Natur ohne menschlich und künstlich gesteuerten Eingriffe. Diese fundamentale Phase des Lebens brachte mir die Fähigkeiten Lebensprüfungen zu bestehen. Die Schule, Familie, Berufsausbildung und das soziale Umfeld vereinnahmte mich immer mehr als Teil der Gesellschaft. Ich erwarb und trainierte mir Routinen die in meinem komplexen Leben später von wesentlicher Bedeutung wurden. Das Zusammenspiel von beruflichem, privatem und Freizeitstress prägte mein Leben – das Leben wurde ein Spiel. Die Schule, Familie, Beruf und Freizeit waren eine Einheit und hatten Lebensfreude bereitet und verursachten keine großen Anstrengungen. Kompensieren von Stress durch Sport oder natürliche und künstliche Drogen, war mir in dieser Phase unbekannt.

Diese Lebensphase schloss ich unbewusst ab, indem ich mit dem Studium anfing und meinen Wohnsitz vom Land in die Großstadt verlagerte. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf Familie und Beruf und vervollständigte meine Ausbildung durch zwei akademisch Abschlüsse. Von dem familiären Studium als Maschinenbauer war ich so begeistert, dass ich ein zweites, Wirtschaft und Sozialwissenschaftliches Studium anschloss. Sehr naiv absolvierte ich im ähnlichem, naturwissenschaftlichem Stil das Grundstudium. Nach vier Semestern musste ich den naiven, ehrlichen Stil wechseln und verstand erst so langsam, dass in der Wirtschaft „der Apfel vom Baum nicht unbedingt zum Boden fallen muss“. Mit dieser Erkenntnis absolvierte ich das vier Semester Hauptstudium in drei Semester.

Die Urkunde des akademischen Abschlusses noch nicht in der Hand unterschrieb ich bei einem amerikanischen Konzern freudestrahlend meinen finanziell lukrativen Arbeitsvertrag. Der Beruf übernah immer größere zeitliche Anteile meines Tages. Am Anfang waren 90 Minuten Fahrzeit zur und von der Arbeit entspannend – ich konnte mich auf die Arbeit vorbereiten und am Abend abschalten. Gleichzeitig entwickelte sich privat eine vierköpfige Familie, die auch Zeit benötigte und verlangte. Nun begann ich den Stress mit Sport zu kompensieren – Ausdauersport war kurzfristig ein optimaler Stressbeseitiger. In dieser Zeit wurde ich immer mehr vom Subjekt – von Gefühlen bestimmt – zum Objekt. Im Beruf und Privat wurden mir die Termine vorgegeben ohne große Entscheidungsmöglichkeiten. Das entsprach nicht meiner Mentalität und meinem Werdegang. Als dann noch eine Persönlichkeitsprüfung im Beruf anstand, zog ich emotional die Reisleine und entschied gemäß meiner natürlichen Routinen. Ich sprang aus dieser geradlinigen beruflichen Karriere raus, ohne kognitive und emotionale Verarbeitung.

Monate später stellte meine Familie fest – er ist anders als er vorher war, er hat keine realistischen Ziele, keinen strukturierten Tagesablauf, keine für das Umfeld logische Argumentationen, seine Lebensziele sind einfach anders. Auf Grund dieser Erkenntnis besuchte meine Exfrau einen Psychiater, der ohne mich zu sehen und zu sprechen die pathologische Diagnose „Schizophrenie“ stellte. Was passierte: Mein Umfeld stellte berufliche, persönliche Forderungen, die ich nicht erfüllen wollte und konnte – ich habe deren Argumentation nicht in Einklang mit meinen Gedanken bringen können.

Jetzt begann die Schockphase – mein beruflicher, privater und gesundheitlicher Lebensplan folgte immer mehr der Diagnose des Psychiaters. Die Verarbeitung dauerte vier Jahre. Ich versuchte mich beruflich, privat und gesundheitlich, gegen die Aussage des Psychiaters zu stellen, um das Gegenteil zu beweisen, ich wollte den idealtypischen Werdegang als Manager in der freien Wirtschaft, doch im Laufe der Zeit holte mich die Diagnose immer wieder ein. Am Ende dieser Phase lernte ich den Diplom Psychologen Andreas Knuf kennen, der meine psychiatrische Geschichte in „Empowerment in der psychiatrischen Arbeit“ als Herrn Eh veröffentlichte „Auch nach mehreren Monaten konnten wir ihm nicht wirklich helfen, und so ging es schließlich, versehen mit einer negativen Perspektive als chronisch psychisch kranker Mensch.“

 

„Sozialer und emotionaler Tod“

Vier Jahre nach der ersten Diagnose des Psychiaters kapitulierte ich vor dem Leben, ich reichte die Rente ein, zog mich sozial und gesellschaftlich zurück und vegetierte, mit meiner psychiatrisch diagnostizierten Lebensgefährtin. Langsam entwickelte ich mich emotional und sozial auf die Stufe eines Kleinkindes. Meine Erwartungen und meine Leistungen von und an das soziale Umfeld waren gleich Null. In dieser Zeit verbrachte ich von 24 Stunden des Tages 20 bis 22 Stunden im Bett. Das Reinigen der Wohnung, des Bestecks, der Teller, das Zusammenstellen eines einfachen Essens (Suppe oder Spagetti), das Einräumen restlicher Lebensmittel in den Kühlschrank usw. empfand ich als überflüssig und unnötig. Hätte ich keine Lebensgefährtin, die mich unterstützte und zu einer Tagesstrukturierung aufforderte – und die mir auch Aufgaben abgenommen hatte, ich hätte alle Kriterien eines Messis erfüllt. (Patricia E. Deegan sagte 1995 am Massachusetts State House dazu: „Während dieser Zeit versuchten Leute, mich zu motivieren. Ich erinnere mich an Leute, die versuchten, mich zur Teilnahme beim Einkaufen am Mittwoch zu bringen oder zur Mithilfe beim Brotbacken oder zu einer Bootsfahrt. Aber nichts von all dem berührte  oder bewegte mich oder ging mich etwas an. Ich hatte aufgegeben. Aufzugeben war eine Lösung für mich. Meine „Motivationslosigkeit“ wurde als Problem gesehen von den Leuten, die mit mir arbeiteten. Aber für mich war aufzugeben kein Problem, sondern eine Lösung. Es war eine Lösung, weil es mich davor schützte, irgendwas zu wollen. Wenn ich nichts wollte, konnte man mir auch nichts wegnehmen. Wenn ich nichts versuchte, musste ich auch keinen weiteren Fehlschlag durch machen. Wenn mir alles egal war, konnte mich nichts mehr verletzen. Mein Herz war hart. Die Jahre kamen und gingen und es war mir egal. Ferien kamen und gingen und es war mir egal. Meine Freunde gingen an die Hochschule und begannen ein neues Leben und es war mir egal. Ich erinnere mich, das ich sass und rauchte und fast nichts sagte. Und so bald die Uhr 20 anzeigte, erinnere ich mich, dass ich meine Freundin im Satz unterbrach, sie heim schickte, weil ich ins Bett ging. Ohne auch nur adieu zu sagen, ging ich zu Bett“ – Zitiert aus Gesundung als Reise des Herzens, Broschüre des LVPE Rheinland-Pfalz e.V. Herausgegeben 2008) Meine emotionalen Schwierigkeiten kannte ich nicht und wurden von Profiseite nie verbalisiert. Langsam aber sicher kamen meine Emotionen und mein soziales Umfeld in ein Gleichgewicht, das bei Null lag –  emotionaler und sozialer Tod. Peter Weimann, der das StaPE (Das Saarländische Tageszentrum Psychiatrie Erfahrener für selbstbestimmte Alltagsgestaltung) aufgebaut hat, schreib in Pro Mente Sana 1/2008: „Um mit solchen Erlebnissen einigermassen überleben zu können war meine Reaktion in den 90er Jahren, das Geschehene von mir abzuspalten, zu erstarren. Liebevolle Beziehungen zum Leben, zu Menschen, waren nicht möglich. Mein davor lebhaftes sexuelle Interesse am anderen Geschlecht ging gegen Null, ebenso dasjenige an anderen alten Leidenschaften wie Fußball, Musik, Literatur und Politik. Ich verbrachte viel Zeit im Bett, sah viel fern, rauchte viele Zigaretten und trank viele Biere. Im Traum wurde ich manchmal in die Psychiatrie gebracht und misshandelt, aber nie so drastisch wie in der Wirklichkeit“.

Nach weiteren drei bis vier Jahren kam plötzlich die Wende, was ist passiert? Meine Kinder – die ich unregelmäßig im 250 km entfernten Köln besuchte – besuchten mich zu Weihnachten bei meinen Eltern. Meine damalige neunjährige Tochter bedankte sich anschließend schriftlich mit einer Postkarte auf der ein Himmelbett abgebildet war. Diese Karte enthielt den Satz: „Lieber Papa – Ich finde die Postkarte gut für Dich und ich wollte den Stift ausprobieren. Schön schreibe ich jetzt nicht das muss Du Dir merken“. Diesen Text habe ich wie Mantras immer wieder gelesen. Dabei überlegte ich, wie konnte meine Tochter mir eine Karte mit einem Himmelbett und diesem Satz schicken. Ich habe ihr doch verheimlichen wollen, dass ich keine Kraft außerhalb des Bettes hatte. Meinen Kindern wollte ich doch ein guter Vater sein und kein Vater, der immer nur im Bett liegt, keine Kraft zur Lebensgestaltung hat und nur durch Medikamente am Leben gehalten wird. Edward M. Podvoll führt hier die Bezeichnung ein: „Der “zweite Zustand“ wird zu einem Kampf ums Überleben“.

Abb. Bio-Psycho-Soziales Mikrosystem

 

Exkurs:
Anhand diesem Bio-Psycho-Sozialen Mikrosystem (Heuristik) kann auch erklärt werden warum der Schlafrhythmus bei psychisch kranken Menschen eine so wichtige Rolle spielt – er ist ein Teil des biologischen Bereichs. Mein Leben bestand nur noch biologisch. Ich verspürte und empfand kein subjektives Erleben und das soziale Verhalten, mein Leben war geprägt durch meine Angst in soziale Kontakte einzutreten. (Das wird in der Heuristik durch die Resultierende „Persönlichkeit“ dokumentiert, die wesentlich von der biologischen Komponente geprägt ist)

Zur gleichen Zeit erfuhr ich von einer bundesweiten Initiative der Psychiatrieerfahrenen. Wir Gleichgesinnten beschlossen eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen. Dieses und der Aufbau der Gemeindenahen Psychiatrie in Rheinland-Pfalz waren der Beginn mich wieder vom Objekt – Gegenstand mit dem etwas geschieht oder geschehen soll – zum Subjekt zu entwickeln. Von nun an lernte ich Stress nicht nur biologisch mit Medikamenten zu kompensieren, sondern mich vorausschauend auf sozialen und lebensnahen Stress einzustellen. Ein Beispiel vom Stress aus dieser Phase geht mir nicht mehr aus dem Kopf, ich hatte die Aufgabe in der Tagesstätte übernommen, selbständig fürs Mittagsessen einzukaufen: 750 Gramm Reis stand unter anderem auf meinem Zettel. Für normale Menschen, die im Leben stehen, ist das kein Problem, für mich brachte die Entscheidung zwischen losem und gebeuteltem Reis und auch noch mich für 500 oder 1000 Gramm Reis zu entscheiden, die Wende. Diese Situation zeigte mir meine Hilflosigkeit in der ich steckte, 15 Minuten vergingen, bis ich eine Entscheidung traf nicht zurück zu gehen und um eine Entscheidung nachzufragen, sondern mich selbständig für 500 oder 1000 Gramm bzw. gebeutelten oder losen Reis zu entscheiden.

 

 „Von der Fremd- zur Selbstbefähigung“

Das was ich jetzt durchmachte das bewies der russischen Nobelpreisträger Pawlow wissenschaftlich schon Anfang des 20. Jahrhunderts  – bedingte und unbedingte Reflexe bei einem Hund. Diesen Funktionalismus, das Erwerben und Aktivieren von Reflexen beim Abrufen der Routinen in ähnlichen Situationen, habe ich mir kognitiv und bewusst wieder neu antrainiert – wie Einkaufen, soziale Kontakte usw.. (Patricia E. Deegan schreibt dazu „Etwas, woran ich mich erinnern kann ist, dass die Leute um mich herum mich nicht aufgaben. Sie hörten nicht auf damit, mich einzuladen. Dinge zu tun. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich ohne bestimmten Grund `ja´ sagte zur Aufforderung, beim Lebensmitteleinkauf zu helfen. Ich stiess nur den Einkaufswagen, mehr wollte ich nicht tun. Aber das war ein Anfang. Und wirklich entdeckte ich mit kleinen Schritten wie diesem, dass ich Stellung beziehen konnte gegen das, was mir nicht gut tat.“ – Zitiert aus Gesundung als Reise des Herzens, Broschüre des LVPE Rheinland-Pfalz e.V. Herausgegeben 2008)

Beispiel: 11 Jahre (1999) nach meiner Diagnose erhielt ich plötzlich Anerkennung und Zustimmung die ich nicht mehr gewöhnt war. Was ist passiert? Ich wurde in meiner Abwesenheit zum 1. Vorsitzenden des LVPE Rheinland-Pfalz e.V. gewählt – ich war abermals in der stationären Psychiatrie. Kurze Zeit später (2000) sollte ich einen Vortrag während der Festveranstaltung „25 Jahre Psychiatrie Enquete“ zum Thema „Verhandeln statt behandeln – Partnerschaft im psychiatrischen Alltag“ vor über 600 Personen in Bonn halten – auch hier bin ich während meiner Vorfreude in die stationäre Psychiatrie eingewiesen worden. In dieser Zeit lernte ich die Auswirkungen von negativen Konsequenzen des positiven  Stresses aushalten.

Welchen Unterschied spürte ich zum Experiment von Pawlow? Der Hund erfuhr anfangs bei positivem Reflex Belohnung und ich reagierte bei positivem Reflex  mit negativer Konsequenz. Nur ist diese Analyse kurzfristig korrekt. Betrachtet man diese Phase wie die Pubertät eines Menschen, so haben mich die Klinikaufenthalte langfristig (und die hilflose Diagnose „Schizoaffektive Psychose und eine querulantische Persönlichkeitsstörung, Cluster C“)  gestärkt und lernten mich selbstbefähigt leben.

 

„Das Leben und ich sind eins“

Vielleicht hat der „Hüter der Normalität“ (Psychiater) mit seiner Diagnose gespürt, dass mein Leben nicht statisch, sondern dynamisch verläuft und er hatte keine Erklärung für die „querulantische Persönlichkeit“. Mich brachte sein Urteil langfristig auf den Weg „Das Leben und ich sind eins“. Damals spürte ich die Hilflosigkeit der Psychiater noch mehrmals am eigenem Leibe, ich besann mich auf die eigenen Fähigkeiten und mein privates Umfeld.

Leben empfand ich nun nicht mehr als naturwissenschaftliche Definition, sondern als körperliches, soziales und seelisches Wohlbefinden (Bio-psycho-soziale Heuristik). Das rudimentär soziale und seelische Wohlbefinden (sozialer und emotionaler Tod) erhielt eine immer größere Bedeutung, bis ich mich mit dem biologischen Leben im Gleichklang befand. In dieser Zeit begleitete mich die ambulante psychiatrische Pflege mit supportiven Gesprächen wöchentlich in meiner Wohnung. Langsam begann ich für mein biologisches Leben Verantwortung zu übernehmen, ich sorgte selbständig für meine Mahlzeiten, beauftragte eine Putzhilfe, die mir ihr System der Reinigung meiner Wohnung zeigte. Ab dieser Zeit sorgte ich selbständig für meine Mahlzeiten, in dem ich Spagetti in allen erdenklichen Variationen (Spagetti mit Kaviar, Spagetti mit Schokoladensoße, Spagetti mit Pesto usw.) kochte. Zusätzlich besuchte ich einen Kochkurs der mir wieder das qualitative Leben zeigte.

Was hat das Kochen bewirkt? Ich hatte mir kleine Ziele gesetzt, einmal am Tag selbständig Essen herzustellen. Dieses bedeutete: Sozialer Kontakt und Training organisatorischer Fähigkeiten wie, Einkaufen gehen, Entscheidungen zu treffen, sich mit anderen fremden Menschen zu unterhalten und/oder Kontakt aufzunehmen, Einkaufen und Kochen der Zutaten in den richtigen organisatorischen und zeitlichen Ablauf zu bringen, Geschirr und Besteck selbständig reinigen und wegräumen (ich habe keine Spülmaschine), Frühstück und Abendessen planen und das alles mit weniger als 7 Euro/Tag. Mit dieser einfachen Maßnahme bekam der Tag eine strukturierte Aufgabe und ich spürte Lebensqualität. Anfangs unterstützte und belohnte ich mich mit einem Saunagang/Woche.

Zwischenzeitlich erhalte ich zur Mittagszeit meinen wöchentlichen Besuch durch die ambulante psychiatrische Pflege (Persönliches Budget, Leistung nach SGB XII), ich kredenze ein einfaches, selbsthergestelltes Essen, diskutiere über Würzung, Zutaten, Geschmack, Kochzeit, Variationen, philosophiere über neue ähnliche Gerichte, mögliche Vor- und Nachgerichte, passende Getränke usw. Der Mitarbeiter der ambulanten psychiatrischen Pflege hat aber nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung die meine Koch- und Verspeisungsorganisation auf die zeitliche, korrekte Einnahmen der Speisen ausrichtet. Die aktuelle Tages- und die Wochenstrukturierung bestimmen somit diesen Essenstermin. Zwischenzeitlich bedeutet mir das kulinarische, genussreiche Essen: Qualitatives und quantitatives Leben, mein tägliches Lunch beansprucht, incl. der Vor- und Nachbereitung, 2-3 Stunden. Ich freue mich jedes Mal über neue, wohlschmeckende, einfache Rezepte. (Bekannte und Freunde schenken mir zwischenzeitlich zu den verschiedensten Gelegenheiten Kochbücher)

 

„Ich bin eins mit mir“

Je erfolgreicher ich das Kochen zelebrierte, um so selbstsicherer wurde ich. Ich begann mich nicht nur fachlich, sondern auch lebensnah zu bilden. Anfangs fesselten mich die Erfolgs- und Misserfolgsberichte aus dem Himalaja, heute philosophische Literatur und mittlerweile die Gestaltung eigener journalistischer Beiträge. Im Sinne des amerikanischen Psychologen Abraham H. Maslow konnte ich durch das Erreichen der Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen, die Stufe der Sicherheit, die Stufe der Bindung und der Liebe, die Stufe der Kompetenz und Anerkennung, die Stufe des Wissens und Forschens, die Stufe der Ordnung und Schönheit sowie die Selbstverwirklichung im Schnelldurchlauf erreichen.

Dazu beigetragen hat auch das Bewusstsein, das meine Persönlichkeit eine sinusförmigen Verlauf hat: Orientierung, Alarmreaktion, Widerstandsphase bzw. Erschöpfungsphase, Entspannung und Regeneration. Mit dieser Erkenntnis forderte ich meine ambulante, psychiatrische Pflege heraus. Anfangs brauchte ich Beistand bei kleinsten positiven wie negativen Stressschwankungen. Dieser Stress äußerte sich im gestörten Schlafrythmus. Zwischenzeitlich bemerke ich nicht jede kleine Alarmsituation, sondern verlasse mich auf meine natürlichen bio-psycho-soziale Gleichgewichtskräfte. In Notsituationen werde ich immer noch auf supportive Gespräche, soziale Kontakte, Sport, homopatische und chemische Medikamente zurück greifen müssen.

 

Fazit

Anhand der chronologischen Darstellung meines Gleichgewichts mit der Gesellschaft versuchte ich den Weg durch die psychiatrische Diagnose zu beschreiben. Ein wesentlicher Beitrag sollte dabei der Weg aus dem Ungleichgewicht in die heutige Balance darstellen. Ob diese Balance lebenslang stabil ist, mag ich nicht vorhersagen zu wollen. Gegenwärtig verspüre ich eine Balance mit Teilen der psychiatrischen Fachwelt und mit meiner Familie – Eltern und Kinder – jedoch ist zwischen mir und der Öffentlichkeit – Nachbarn, möglichen Arbeitgebern, nicht psychiatrisch auffällige Menschen usw. – eine nicht zu übersehene Kluft. Eine Balance wie vor der Diagnose werde ich nie erreichen können, jedoch bin ich mit jeder Verbesserung sehr zu Frieden – im Sinne aller Psychiatrie Erfahrenen Menschen.

Ob der Grund für mein Ungleichgewicht so einfach darstellbar ist möchte ich nicht absolut behaupten. Im Sinne von Jens Clausen, der über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen, in „Das Selbst und die Fremde“ schrieb, kann meine berufliche Ausbildung und die damit erreichte gesellschaftliche Stellung eine Grenzerfahrung – wie es Bergsteiger im Himalaja erleben – gewesen sein. Auf Reisen – vom Land in die Stadt und in andere Gesellschaftskreise – zu gehen, ferne Welten aufzusuchen, festgelegte Rollen hinter sich zu lassen und vorzustoßen in Räume voller Erwartung und Verheißung, dies ist der Dreh- und Angelpunkt eines zerbrechlichen Glücks und zugleich gefahrenvoller Momente seelischen Scheiterns.

Andreas Knuf, der mich seit 16 Jahren begleitet, schreibt in seinem Buch „Empowerment in der psychiatrischen Arbeit“: „Noch heute treffe ich Herrn Eh immer wieder auf Veranstaltungen, wir sind längst Kollegen geworden“… „Die wichtigen Schritte auf dem Weg zur Gesundung von Herrn Eh wurden durch sein soziales Umfeld ermöglicht, nicht in erster Linie durch psychiatrische Hilfeangebote“.

 

Ausgewählte Literatur:

Perceval, J.T. (1838). A narrative of the treatment experienced by a gentleman, during a state of mental derangement. London, Wilson

Hehlmann Wilhelm (2. Auflage 1967). Geschichte der Psychologie, Stuttgart

Wagner Franz-Josef. Psychisch Kranke gehen in die Offensive. In: Psych. Pflege Heute 1999; 5; 104 – 105

Wagner Franz-Josef. Verhandeln statt Behandeln – Partnerschaft im psychiatrischen Alltag In: 25 Jahre Psychiatrie-Enquete (Hrsg) 2001 Band 1; 128 –  150

Wagner Franz-Josef. Die neue Psychiatrie in Rheinland-Pfalz aus Sicht von Psychiatrie-Erfahrenen. In: Psych. Pflege Heute 2003; 4: 214 – 216

Podvoll Edward M. (2004) Aus Entrückten Welten – Psychosen verstehen und behandeln, Kreuzlingen/München

Wagner Franz-Josef. Was hat die Enquete Rheinland-Pfalz gebracht? In: Psych. Pflege Heute 2004; 4: 192 – 194

Wagner Franz-Josef. Personenzentrierte Hilfen aus Sicht von Betroffenen In: Kerbe 2004; 4: 19 – 22

Wagner Franz-Josef. Das persönliche Budget – Weg oder Irrweg? In: Psych. Pflege Heute 2005; 11: 183 – 186

Lorenz Rüdiger. (2. Auflage 2005) Salutogenese; München

Wagner Franz-Josef. Entwicklung der Psychiatrie aus Sicht der Betroffenen. In: Psych. Pflege Heute 2006; 2: 92 – 94

Wagner Franz-Josef. Das Persönliche Budget – eine Pandora für wen? In: Psych. Pflege Heute 2006; 12: 276-279

Knuf Andreas. (2006) Basiswissen: Empowerment in der psychiatrischen Arbeit, Bonn

Knuf Andreas, Wie werden psychisch kranke Menschen wieder gesund? In: pro mente sana aktuell 2005; 1; 26-27

Deegan Pat. Recovery: The Lived Experiance of Rehabilitation. In: Psychosocial Rehabilitation Journal 1988; 11/4 : 15-19

Amering Michaela. Hoffnung-Macht-Sinn. Recovery-Konzepte in der Psychiatrie. In: Dokumentation zur 10. Fachtagung des LVPE RLP vom 22. September 2006 in Ludwigshafen (www.lvpe-rlp.de/Fachtagungen)

Michaela Amering, Margit Schmolke (2007) Recovery – Das Ende der Unheilbarkeit, Bonn

Wagner Franz-Josef, „Unheilbar krank“ – nein danke! Wege aus einem Diagnose-Trauma In Soziale Psychiatrie 2007; 3: 21 – 22

Jens Clausen. (2007) Das Selbst und die Fremde. Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen, Bonn

Wagner Franz-Josef, Gute Kooperation stärkt Selbsthilfe. Wie Politik und Selbsthilfebewegung sich klug ergänzen – ein Erfahrungsbericht aus Rheinland-Pfalz In Soziale Psychiatrie 2007; 3; 15-17

Wagner Franz-Josef, Besser Reintegration mithilfe der Persönlichen Budgets und ambulanter psychiatrischer Pflege; In: Psych. Pflege Heute 2007; 3; 120-124

Knuf Andreas, Osterfeld Margret, Seibert Ulrich (5. Auflage, 2007) Selbstbefähigung fördern – Empowerment und psychiatrische Arbeit, Bonn

Wagner Franz-Josef, Der Weg aus dem Heim – aber wie?; In: Psycho Soziale Umschau 2007; 4; 8

Jork Klaus, Peseschkian Nossrat.(2005/2006) Sautogenese und Positive Psychotherapie 2. erweiterte und ergänzte Auflage, Bern

Wagner Franz-Josef, Wie konnte ich wieder selbst bestimmt leben? In Kerbe 2008, 1, 11-12

Schweizer Jochen. Die unendliche und die endliche Psychiatrie, Kerbe 2008, 1;
4 – 7

Knuf Andreas. Recovery: Wider den demoralisierenden Pessimismus, Kerbe 2008, 1; 8 – 11

Weimann Peter, Gewalt, Zwang und Demütigung: Psychiatrie als Trauma, Pro Mente Sana 2008, 1, 22 – 23

Richter Brigitte, Wie kann ich in meinem Alltag an eine bessere Zukunft glauben? Psychosoziale Umschau 2008, 2, 37 – 39

Saturn Petra, Viele Jahre hatte die Seele keine Sprache und doch hat alles seinen Sinn, Psychosoziale Umschau, 2008, 2, 39 – 40

Huck Gerhard, Salutogenese, Empowerment, Recovery – neue Reizworte für die Psychiatrie? Psych. Pflege Heute 2008, 2, 64 – 71

Kalle Pehe, Ikarus fliegt wieder – Neuorganisation nach seelischen Krisen ist möglich, Kerbe 2008, 3, 27-29

Wagner Franz-Josef,  Leben mit Schizophrenie,  Psych. Pflege Heute 2008, 4,
198 – 200

Wagner Franz-Josef,  Liebe, Lust, Leidenschaft und Schizophrenie – ein anderes Erklärungsmodell,  Psych. Pflege Heute 2008, 6, 307-309

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